Wednesday 27 March 2024

Stockfotografie

Ich habe nur eine vage Vorstellung, worum es sich bei der Stockfotografie handelt, als ich mir dieses Büchlein vornehme. Was genau sind also Stockfotografien? "Stockfotos sind Bilder, die mit Blick auf einen künftigen Verwendungszweck produziert werden und auf Vorrat ("in stock") bereitstehen." Wer einen Artikel bebildern will, wird meist mittels Schlagwortsuche in den Datenbanken der Stockfotografie fündig. "Die Stockfotografie ist also in erster Linie ein Geschäftsmodell zur effizienten Bilddistribution."

Stockfotos sind somit Bilder auf Abruf. Der Auftraggeber spart Geld für teure Fotoshootings, die Darstellung der Welt wird zunehmend uniform. Juristisch ist dies meist so geregelt, dass die Nutzung am Bild erworben wird und dieses Nutzungsrecht nicht exklusiv ist. Was zu einigermassen erstaunlichen Folgen führen kann. "So warb etwa die CDU während des Kommunalwahlkampfs in Hannover 2021 mit einem Stockfotomotiv, das die AfD bereits einige Jahre zuvor ihrerseits in einer Kampagne gegen Kita-Gebühren eingesetzt hatte."

Autor Thomas Nolte tut, was Sachbuchautoren gemeinhin so tun: Er klärt Begriffe, wirft einen Blick zurück in die Geschichte. So gängig dies auch ist, von Fantasie zeugt dieses Vorgehen nicht. Unter dem Titel "Sprechende Bilder" (ich weiss, das ist metaphorisch gemeint, trotzdem: Bilder können nicht sprechen) zeigt er dann, wie man üblicherweise Fotos interpretiert: Er liest in das Foto hinein, was nicht zu sehen ist. Zugegeben, dazu eignen sich Stockfotos hervorragend.

Stockfotografie nimmt Bezug auf bekannte Theoretiker wie William J. Mitchell, der digitale Bilder als performances verstehtoder Charles Sanders Peirce, der die Fotografie als Zeichenform begreift. Mir sind beide Betrachtungsweisen fremd; sie suchen Sinn, gründen in Interpretation und nicht in Anschauung. Irritierend fand ich überdies, dass Thomas Nolte mit Begriffen wie Street Photography oder Staged Photography (kaum etwas, was nicht darunter fallen würde) operiert, ganz so, als ob klar wäre, was darunter zu verstehen sei. Ich für meinen Teil halte solche Kategorisierungen nicht nur für willkürlich, sondern für absurd.

Als ich dann auf diesen Satz stiess   "Voraussetzung für die Entstehung der staged photography ist die Bildwerdung der Welt." – , wusste ich definitiv, dass ich nicht zum Zielpublikum dieser Schrift gehöre, denn für mich ist dies nichts als prätentiöser Jargon bzw. ich kann mir unter "Bildwerdung der Welt" so ziemlich gar nichts vorstellen. Und Baudrillard, der die Wirklichkeit als imaginiert begreift, wünsche ich möglichst schmerzhaftes Zahnweh.

Trotz vieler abgehobener Theorien, die für Bedeutungsbedürftige attraktiv sein mögen, sowie von allerlei Zitaten, die an Nichtssagendem schwer zu übertreffen sind ("Ein Stockfoto zu betrachten bedeutet, zu wissen, dass man ein Stockfoto betrachtet."), zeigt dieses Büchlein auch sehr schön auf, dass die Stockfotografie durch die von der Realität losgelöste Darstellung der Realität "eine in sich geschlossene Parallelwelt (entwirft), die sich durch sterile Perfektion auszeichnet" ...

Die Stockfotografie "bietet mit ihren Bildern eine Reihe von Gestaltungsentwürfen an." Dieser zentrale Aspekt weist darauf hin, dass wir die Welt nicht einfach hinnehmen, sondern gestalten wollen. In dieselbe Richtung geht auch die KI, wobei Autor Nolte treffend darauf hinweist, dass im Gegensatz zu KI, den Stockfotos "noch eine Referenz zukam   mag das Dargestellte selbst auch inszeniert sein."  Man konstatiere dies "mit einem fast nostalgischen Gefühl", meint er  und man kann ihm nur zustimmen.

Thomas Nolte
Stockfotografie
Pathosformeln des Spätkapitalismus
Wagenbach, Berlin 2024

Wednesday 20 March 2024

In einer anderen Schweiz

Zuallererst: Der Titel In einer anderen Schweiz nervt mich, da er suggeriert, es gebe eine übliche, gängige Schweiz und dann diese andere, die der Fotograf Ueli Meier uns zeigt. Nun gut, jeder und jede bildet sich bekanntlich ein, die Dinge, alle Dinge, auf eine ganz eigene Art zu sehen und das mag ja auch durchaus sein, obwohl wir das so recht eigentlich nicht wissen können. Jedenfalls: Nicht wenige, der in diesem Buch versammelten Bilder stehen für mich für die übliche, gängige, ja geradezu offizielle Schweiz. Was könnte schweizerischer sein als das eidgenössische Schwing- und Älplerfest, ein Turnfest oder ein Zuchtstiermarkt?

Alfred Messerli, der das Vorwort verfasst hat, sieht das übrigens ganz anders: "Selbst wenn es uns entgeht oder wir es ausblenden: Wir leben tatsächlich in und neben mehreren Welten. Darauf verweist der Titel des vorliegenden Fotobands. Ein weiterer Begriff, der in diesem Titel mitgemeint ist oder doch anklingt und den Arbeiten Ueli Meiers zugrunde liegt, ist derjenige der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit ...". Letzteres klingt etwas arg akademisch in meinen Ohren.

Ich blättere vor und zurück, bleibe gelegentlich hängen und staune über den fotografischen Blick von Ueli Meier, der meinem Sinn für Ästhetik wohltut. Ganz speziell haben mir es die Aufnahmen des Wipkinger Viadukts und vom Escher-Wyss-Platz angetan, wohl auch, weil ich mal in Wipkingen gewohnt habe und gute Erinnerungen damit verbinde. Natürlich, ich rate nur, schliesslich weiss ich nicht wirklich, weshalb mich diese beiden Aufnahmen, die im Buch einander gegenübergestellt sind (eine gestalterische Meisterleistung) geradezu begeistern.

In einer anderen Schweiz ist in verschiedene Kapitel unterteilt, denen jeweils eine kurze und nützliche  Erläuterung beigegeben ist. Die einzelnen Aufnahmen kommen hingegen zumeist ohne Legenden daher, eine zwar gängige, doch gänzlich unbefriedigende Praxis, speziell bei Fotoreportagen, die von der Kombination Bild/Text leben.

Was mir bei diesem Band vor allem fehlt, sind Erläuterungen des Fotografen, die mich darüber aufklären wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind, in was für einer Stimmung er sich befunden hat, was ihn zu dieser Auswahl bewogen hat. Mangels solcher Aufklärung betrachte ich diese Aufnahmen allein nach dem Kriterium, ob mir die Bilder gefallen oder nicht.

Was mir gefällt, und zwar ausgesprochen gut gefällt, ist das fotografische Auge von Ueli Meier, wie er, was sich vor der Kamera befindet, einrahmt. Schliesslich ist es das Einrahmen von bereits Vorhandenem, was den Fotografen zum Fotografen macht.

So recht eigentlich spielt es keine Rolle, was Ueli Meier aufnimmt. Wie er es aufnimmt, ist entscheidender. Man sehe sich zum Beispiel die Kampfflugzeuge auf Seite 55 an. Warum mich dieses Bild anzieht, weiss ich nicht. Warum-Fragen (auf die man nur mit Interpretationen antworten kann) interessieren mich heute nur noch wenig. "Die elf Fotografien (zu denen auch die gerade erwähnten Kampfflugzeuge gehören) mit der Überschrift 'Truppenvorbeimarsch Infanterie Regiment 27 der Felddivision 6" (Mythenquai Zürich, 20 September 1984) sind eine visuelle Recherche über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Schweizer Armee anlässlich eines Defilees mitten in der Stadt Zürich", so Alfred Messerli. "Eine visuelle Recherche über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit"? Was auch immer das sein mag ...

In einer anderen Schweiz ist ein ungemein anregender Band. Nicht, weil es mir eine sogenannt andere Schweiz (verglichen mit welcher?) zeigt, sondern weil mir die Neugierde und Kreativität des Fotografen Ueli Meier (allein die Auswahl der Sujets zeugt davon) einen Blick auf Menschen eröffnet, auf die ich wohl selber kaum gekommen wäre. Etwa auf "Heimgekehrte Missionare der Missionsgesellschaft Betlehem SMB" oder "Junge Zürcher Millionärserben."

In einer anderen Schweiz ist ein sehr gelungener, höchstwillkommener Augenöffner! Und darüber hinaus ein wertvolles Zeitdokument.

Ueli Meier
In einer anderen Schweiz
Fotoreportagen 1980-2000
Scheidegger & Spiess, Zürich 2024

Wednesday 13 March 2024

Schwyz. Uri. Unterwalden

Bei diesem Buch handelt es sich um eine zweisprachige Ausgabe, Englisch - Deutsch. Ich habe die beiden Texte nur ganz rudimentär verglichen – für mein Sprachgefühl klingen sie sehr verschieden, was ja bei Übersetzungen kein Nachteil zu sein braucht. Trotzdem: Meine Präferenzen in Sachen Sprachrhythmus wären andere gewesen.

Die bekannte Zen-Einsicht, die die Einführung zu diesem Text einleitet ("Bevor ich dreissig Jahre lang Zen studierte, hatte ich Berge als  Berge und Flüsse als Flüsse gesehen. Als ich ein besseres Verständnis entwickelte, gelangte ich an den Punkt, an dem ich sah, dass Berge nicht Berge sind und Flüsse nicht Flüsse. Jetzt aber, da ich der Ruhe beheimatet bin, sage ich: Berge sind wirklich Berge und Flüsse wirklich Flüsse." Ch'ing-yüan Wei-hsin), schraubte meine Erwartungshaltung in ziemliche Höhen. Nur eben: Die Texte haben so ziemlich gar nichts damit zu tun, denn diese Zen-Einsicht beschreibt so recht eigentlich ein Satori.

Shelbys Ur-Grossvater stammt aus der Schweiz, sie selber ist in den USA aufgewachsen, will aber unbedingt in der Schweiz Wurzeln schlagen. Es ist eine Obsession. Woher diese kommt, weiss sie nicht. Anstatt dies gross zu analysieren, was selten mehr als interpretieren ist, beschliesst sie, die Urschweiz zu erfahren. Und sie tut dies, indem sie sie erwandert. Ein Ansatz, der mich anspricht.

"Das Ziel war nicht mehr, ein objektives Wissen über die Region zu erlangen, sondern vielmehr den verbindenden Fäden nachzuspüren, die mich von einem Moment zum nächsten brachten. Um welche Arten von Beziehung handelt es sich, wenn es um Geschmack, Berührung, Geruch ging – um Sinneseindrücke statt Geschichten?" So sehr mir diese Herangehensweise auch gefällt, in die Texte umgesetzt habe ich sie nicht gefunden. Stattdessen: "Die Stämme der Bäume sind mit Moos überwachsen und verzweigen sich in fingerartige Wurzeln, die sich in den Boden graben."

Die kurzen Sequenzen, die sie aneinander reiht, beschreiben sehr Allgemeines, das ich nicht speziell mit den drei Ur-Kantonen in Verbindung bringe. Sie schreitet, kraxelt, geht vorbei. Sie schreibt von Flüssen und Bergen, ohne sie zu benennen. Zu den wenigen Stellen, in denen ein Ortsname erscheint, gehört diese, sehr schöne. "Als ich in Erstfeld ankomme, versinkt die Sonne gerade hinter den dunklen Wänden des Tals. Ich such die nächste Zugverbindung nach Basel. Am Kiosk kaufe ich einen Kaffee und frage die Frau hinter dem Schalter, wo die Altstadt ist. Sie lächelt ein wenig amüsiert: 'Das ist sie.'"
.
Von einer Integration in die Landschaft und der persönlichen Einschreibung in die Geschichte, handeln gemäss Christian de Simoni diese Texte. Wer mit solchen Formulierungen etwas anfangen kann, der oder die wird vermutlich auch diesem Büchlein etwas abgewinnen können.

Shelby Stuart
Schwyz. Uri. Unterwalden.
edition taberna kritika, Bern 2024

Wednesday 6 March 2024

Der Politprofi

 Ich fragte ihn, wie er es zu seinem ungewöhnlichen Wechsel vom Imbissbetreiber zum Politprofi gekommen war. Er sagte, eines Morgens sei er von Billingsgate mit einem Lieferwagen voll Schnecken zurückgekommen und hätte im Autoradio in der Sendung "Today" auf Radio Four gehört, wie Lord Hattersley über John Major sagte: "Er wäre schon mit einer Imbissbude überfordert." Lenny Purbright fühlte sich von Lord Hattersleys Bonmot dazu inspiriert, seinem Leben eine andere Richtung zu geben.

Sue Townsend: Die Cappuccino Jahre

Wednesday 28 February 2024

In Bilbao

Ob hier der Bus ins Zentrum fahre? Ja, sagen die beiden jungen Frauen und zeigen auf einen Schalter, wo ich die Fahrkarte kaufen könne. Und so stelle ich mich in die Schlange, die sich jedoch keinen Zentimeter bewegt, weil ein hochaufgeschossener junger Mann in einer Sprache, die mir nicht geläufig ist, Auskünfte zu erhalten versucht, die vermutlich wenig mit einem simplen Fahrkartenkauf zu tun haben können. Ich sehe den Bus vorfahren und so verlasse ich die Schlange unverrichteter Dinge und frage eine der beiden jungen Frauen, ob ich auch im Bus zahlen könne und was das koste. No te preocupes, sagt die eine, tengo una tarjeta. Die beiden entpuppen sich als Krankenschwestern, die eine aus Sevilla, die andere aus Murcia, wo es im Gegensatz zu Bilbao zu viele hätte, deshalb seien sie hier, obwohl sie den Regen hassten, überhaupt sei das Klima beschissen.

Spazieren gehen, Fotos aufnehmen, Kaffee trinken und mich über die Eigenheiten der Menschen amüsieren. Das schwebt mir vor. Eine voluminöse Schwarze um die 50, die vor einem Hauseingang sitzt und derart laut in ihr Handy brüllt, das man sie auch im benachbarten Viertel hören kann; ein muskulöser Mann um die 40, der ein ärmelloses T-Shirt trägt, damit man nicht nur seine Muskeln, sondern auch seine vielen Tattoos sehen kann; eine vielleicht 80Jährige ganz in Gelb und mit gelbem Mundschutz, die einen Rollator vor sich her stösst; ein Mädchen um die 15, das derart verlegen wird, dass es mich ungemein rührt, weil es nicht sagen kann, wo in der Nähe es eine Bäckerei gibt; eine vielleicht Dreijährige, die von ihrem Vater aus dem Kinderwagen herausgehoben wird, damit sie ganz stolz die vor ihr liegende Treppe hochsteigen kann.

Eine rot gestrichene Mauer, ein blaues Schuld auf dem Eroski Center steht, ein Eingang ist nicht zu sehen. Ein Sexshop, denkt es automatisch in mir. Ich sehe noch einige solcher Schilder, manchmal steht auch City anstelle von Center. Und irgendwann merke ich dann, dass es sich um eine Supermarktkette handelt ….

In einem Aussenbezirk, fern vom Zentrum. Unaufgeregter ist es hier, gemächlicher, der Café con leche kostet gerade mal einen Euro. Ich setze mich in ein Café an einer Strassenkreuzung, Lastwagen dröhnen vorbei, ich muss lachen über meine Wahl, nehme mein Zen-Buch hervor, in dem das Lachen mit Freisein verglichen wird, einer Losgelöstheit des Geistes.

Auffallend, die vielen Alten, die im Rollstuhl ausgefahren werden. Und die vielen Raucher, mehr Frauen als Männer.

To be completely honest with you, sagt der hochgewachsene schlanke Schwarze, der an mir vorbeigeht, in sein Handy – bei mir würden sämtliche Alarmglocken läuten.

Das Leben eine Tragödie oder eine Komödie? Beides natürlich.

Ich kann eigentlich nur ziellos durch die Stadt gehen, die üblichen Ziele – Galerien, Museen etc. – interessieren mich nicht, das Mich-Konzentrieren auf das, was ich gerade tue (gehen, schauen, essen etc.) ist das Einzige, das mir zu bleiben scheint. Es ist auch das Schwierigste.

Ich ziehe mich ins Hotel zurück, zu meinem ultimativen Luxus: Bücherlesen in einer fremden Stadt. Byung-Chul Han, Friedrich Nietzsche, Jim Thompson, Lis Groening.

Der Rezeptionist und die Rezeptionistin wechseln automatisch zu Englisch, sobald sie merken, dass man kein Muttersprachler ist. Ihr Akzent tut meinen Ohren weh, ich bleibe bei meinem fehlerhaften Spanisch. Später höre ich sie mit Gästen Französisch sprechen … mit demselben grauenvollen Akzent.

Bilbao habe sich in den letzten Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert. Zuvor sei es eine verdreckte Industriestadt gewesen, sagten die beiden Frauen im Früchte- und Gemüseladen, dann hätten die Behörden die Industrien an den Stadtrand verbannt. Auch das Wetter habe sich wegen des Klimawandels positiv verändert, früher habe es nur geregnet.

Fern von Zuhause beschäftigt mich das Zuhause weit mehr als Zuhause.

Wednesday 21 February 2024

On Books

 I'm a book-addict. Not only the walls of my apartment are covered with books, there are many more on top of the wardrobe as well as in boxes in the basement. Quite some of them I haven't read, and of the ones that I have read, I often can't recall what they were all about.  What I however regularly remember is where I had bought them and where I had read them, under what circumstances and in what mood.

Recently, I took some from the shelves and started to read. And, I was surprised and enchanted that quite some immediately struck a cord.* It seems that on a thoroughly unconscious level I must have always known what appeals to me. My explanation? There is no past, there is only the eternal present.

* Cutting for Stone by Abraham Verghese, Wolf Solent by John Cowper Powys, The Houdini Girl by Martyn Bedford.

Wednesday 14 February 2024

Zürich, Rieterpark, 2012





Zürich, Rieterpark, Juli 2012