Wednesday 8 May 2024

Bildpolitiken der Identität

Der Name Bernd Stiegler ist mir bekannt, daher mein Interesse an diesem Werk. Hätte ich jedoch den Untertitel gelesen (Von Porträtfotografien bis zu rechten Netzwerken), wäre dieses Interesse entschieden weniger gross gewesen, denn das war so ziemlich gar nicht, was ich mir erhofft hatte: Grundlegende Gedanken über Fotografie und Identität. 

Irritierend dann der Einstieg: Die französische Schriftstellerin George Sand wurde in den 1980er Jahren vom damals berühmten Fotograf Nadar aufgenommen, dessen Porträts sie, obwohl sie sie suboptimal fand, trotzdem vermarktete und zum Kauf anbot. So weit so gut, doch dass da in keinster Weise auf die Frage eingegangen wird, was sie wohl dazu getrieben hat, empfand ich als befremdlich. Ja, sicher, darüber kann man nur spekulieren, nur eben: Alles, was man zur Identität sagen kann, ist Spekulation. Und für die Buddhisten eine Illusion.

"Wer ich bin, entscheiden massgeblich die anderen. Daher muss der Auftritt der Identität mit Hilfe von Medien inszeniert und vermittelt werden." Doch stimmt das? Entscheiden wirklich die anderen massgeblich, wer ich bin? Das mag für einen Universitätsprofessor oder eine Schauspielerin oder andere Leute, die die Öffentlichkeit suchen, gelten; bei allen anderen wäre ich mir hingegen nicht so sicher.

Es handle sich, so der Autor in seiner Einleitung, um einen Gang durch die Fotografiegeschichte in zwei Etappen, und in mir regt sich bereits Widerstand. Geht es eigentlich auch einmal ohne den Schritt zurück? Wir haben doch längst gelernt (aus der Geschichte lernen wir, dass wir aus ihr nichts lernen, so Hegel), dass es keine Folgerichtigkeit für menschliches Verhalten gibt. Was wir stattdessen beobachten können, ist ein Treten an Ort. So merkt Professor Stiegler zu den Bildern im Netz treffend an: "Es wird fortwährend Neues generiert, das immer wie Vergangenes aussieht: ein jedes Bild  eine Art Déjà-vu. Es soll vertraut erscheinen und den uns als Porträtfotografie bekannten Bildtypen ähneln."

Warum ist eigentlich Identität so wichtig? Dazu habe ich leider in diesem Band kaum etwas gelesen, stattdessen lässt sich der Autor ausgiebig über die Fotografiegeschichte aus, worin er sich bestens auskennt. Zugegeben, das ist aufschlussreich und anregend, mir heutzutage jedoch zu wenig. Zur Identität lese man Dostojewski

Im zweiten Teil kommen dann vor allem Bildpolitiken im Netz zur Sprache, wobei dem Autor Tendenzen auffallen, die zwar nicht überraschen, doch in unser aller Bewusstsein gehören. "Die Linke ist deutlich textlastiger, während die Rechte dazu tendiert, auch Texte in Bilder zu verwandeln und mittels Bildern Inhalte zu triggern. Beide zeichnen sich weiterhin definitiv nicht dadurch aus, dass sie neue mediale Verfahren und Praktiken zur Herstellung von Identität entwickeln würden."

Möglicherweise hat das Erstarken der Rechten auch mit dieser Bildlastigkeit, deren sie sich clever bedienen, zu tun, denn Bilder transportieren Gefühle und diese werden selten hinterfragt. Was Walter Benjamin bereits 1931 formulierte, gilt unverändert auch heute. "Nicht der Schrift- . sondern der Fotografieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein." 

Die Frage "Warum trauen wir Fotografien, wenn es um Identität geht?" scheint rhetorisch gemeint, doch die zahlreichen Beispiele, die Bernd Stiegler aufführt, wie man Fotos zum eigenen Vorteil bzw. zum Nachteil der anderen beeinflussen und manipulieren kann, könnten deutlicher kaum zeigen wie verblendet wir durchs Leben gehen.

Professor Stiegler macht sich für eine fotografische Alphabetisierung stark. "Eine richtig verstandene fotografische Alphabetisierung nimmt den performativ weiterhin überaus erfolgreichen Lichtbildern ihre Selbstverständlichkeit und macht aus ihnen das, was sie immer schon waren: kulturelle Zeichen."
Nur eben: Solche Erkenntnisse helfen nur denen, die guten Willens sind. Das Beispiel des Florida-Golfers zeigt, dass alle Aufklärung nichts nützt, solange sie auf taube Ohren, Augen und Hirne stösst.

Bernd Stiegler
Bildpolitiken der Identität
August Verlag, Berlin 2024

Wednesday 1 May 2024

Die wunderbare weite Welt

Durrers Buch ist ein Genuss. Ein (Fern)Reisebuch, aber es ist auch noch viel mehr als das. Kurze, intensive Episoden aus den verschiedensten Ländern der Welt - mit Esprit und Humor geschrieben, eine Reihe von genauen Beobachtungen des Menschlichen, des Besonderen, des Typischen - ganz anders als in den klischeehaften gängigen Reisebüchern. Ein Nachdenken über die "condition humaine" - mit Leichtigkeit und zugleich viel Tiefe zu Papier gebracht. Wer etwas über die wunderbare, weite Welt und über sich selbst etwas erfahren möchte, der lese unbedingt dieses schöne Buch.

Jan Cornelius auf Amazon, am 1. März 2015

Wednesday 24 April 2024

Getting Older



The above pics were taken by Blazenka Kostolna 
at the Zeughaus Rapperswil in November 2023

Looking at myself in the mirror has little effect on my being aware of my aging. Looking at myself in photographs is slightly different for they froze a moment in time. Also, they document change. Should I however be truly interested in having my age shown to me, I need to place myself next to younger people for only then I do not just see but experience that I'm getting older. That I'm not doing this here is very probably an indication that I prefer not to be confronted with it.

Wednesday 17 April 2024

In Wyoming

Da ich aus einer Metropole wie L.A, kam, war ich ein Snob und fand die Rundfunksender im ländlichen Wyoming grauenhaft.

Ich fühlte mich in Wyoming auch in anderer Hinsicht wie von einem anderen Stern.
Am 8. August 1974 sass ich im Van, hatte das Radio eingeschaltet und weigerte mich, auszusteigen, während meine Eltern ein Picknick veranstalteten. Ich wartete auf die Nachricht, dass Präsident Nixon endlich zurückgetreten war. Meine Freunde in L.A. würden dieses Ereignis feiern, während sich hier niemand dafür zu interessieren schien.

Jessie Close: Ich bin mit den Wolken geflogen

Wednesday 10 April 2024

On Sebastião Salgado and Susan Sontag

 Taken in thirty-five countries, Salgado’s migration pictures group together, under this single heading, a host of different causes and kinds of distress. Making suffering loom larger, by globalizing it, may spur people to feel they ought to “care” more. It also invites them to feel that the sufferings and misfortunes are too vast, too irrevocable, too epic to be much changed by any local, political intervention. With a subject conceived on this scale, compassion can only flounder—and make abstract. But all politics, like all history, is concrete”, Susan Sontag writes in “Looking at war”.

True: all politics is concrete, all history is concrete. But is it likewise true that when the subject of sufferings and misfortunes is “conceived on this scale, compassion can only flounder – and make abstract”? Well yes, if one so wishes, if one so decides to ‘see’ it. Except that such ‘seeing’ can be done without looking at these photographs for it is of the “I see what I believe, I see what I want to see”-variety, untroubled by what the photographs actually show. If one however refrains (as best as one can) from interfering in what his/her eyes are showing him/her, if one makes an effort to not let one’s ego get into the way, and, last but not least, if one takes the necessary time to contemplate them then new worlds might reveal themselves – which is still one of the best reasons to look at photographs.

It is with amazement and awe that I look at Sebastião Salgado’s pictures, I marvel at what my eyes show me, and at what I allow them to see. The longer I let these images sink in, the closer I feel to the persons portrayed. Not least because I allow these feelings to become prominent, because I’m willing to experience them. Understanding is a feeling, writes Robert Adams in „Beauty in Photography“. And for understanding to happen, one needs to be ready.

Let us take a photo from „Migrations“

What do I see here? What does this image show me? Where was it taken, and for what purpose? What I see is this: A young, attractive, well-dressed woman with painted lips and painted eyebrows in front of a barrier behind which one can distinguish hands that cling to it as well as faces. I don’t understand what my eyes show me, can’t figure out the context. Is this a prison? What does the woman see? Where is she looking at? The caption says: „The Rodoviario de Tietê bus terminal in São Paulo is the main gateway for new migrants to the city. Every day, hundreds of buses bring people dreaming of El Dorado. This young woman has just arrived from the provinces in her best attire; on the other side of the barrier, people wait for friends or family members arriving in the city to visit or settle. São Paulo, Brazil. 1996.“ Knowing this (for I want to trust these words), I’m beginning to see the picture the photographer has wanted to show me. And now, and only now (because I know now what I’m looking at) this picture can show me more than the famous thousand words could tell. So what does this picture tell me?

What first springs to mind are pictures of the Rodoviarios in Brazil’s Northeast where I had spent some months travelling. Why it is the ones of Recife, Maceío, Natal, and São Luis, the bigger ones, I cannot say. But as soon as I start jotting down the names of these bus terminals, new ones emerge before my inner eye. Teresina, Parnaiba, Fortaleza … it is a movie that I watch, without a plot, only image impressions, seemingly unrelated, in rapid succession; a sense of being lost in the world comes over me.

It does not bother me that the young woman on the photo has no name. I feel drawn to her, identify with her (as I imagine) insecurity, her efforts to show firmness and dignity, her worries and hopes for a good future – I wish I could protect her.

A portrait that declines to name its subject becomes complicit, if inadvertently, in the cult of celebrity that has fuelled an insatiable appetite for the opposite sort of photograph: to grant only the famous their names demotes the rest to representative instances of their occupations, their ethnicities, their plights” Susan Sontag writes in Regarding the pain of others.

With all due respect: this is nonsense. Not because the young woman on this photo is not representative of her plight yet because she is not only representative but can be perceived, felt, and identified with, as a person.

***

The more I’ve appreciated Salgado’s work (especially his 12-year-project ‘Genesis that aimed at documenting still pristine parts of the world such as the Namib desert or the Galapagos islands), the more critical I’ve judged (some) of Sontag’s views. She deems, for instance, aggressiveness one of the characteristics of Photography. In Plato’s cave, the first of the six essays that constitute “On Photography”, she writes “ …there is something predatory in the act of taking a picture. To photograph people is to violate them by seeing them as they never see themselves. By having knowledge of them they can never have. It turns people into objects that can be symbolically possessed. Just as the camera is a sublimation of the gun, to photograph someone is a sublimated murder. A soft murder, appropriate to a sad, frightened time.”

One can easily agree that „there is something predatory in the act of taking a picture*, especially if one thinks of the pack of professional photographers at the international film festival in Cannes. But the notion that “to photograph people is to violate them” is not only far-fetched, it is simply absurd, as is Sontag’s reasoning (”by seeing them as they never see themselves. By having knowledge of them they can never have.”). Granted, that is subtly observed and it is also true, but what has this to do with violating people? And even if can agree that photos turn people into objects that can be symbolically possessed“, that is still a far cry from violating them.

There are of course people who use a camera in the way they use a weapon and “to shoot pictures” is a common but (sadly) rarely reflected expression. However, to state that „as the camera is a sublimation of the gun, to photograph someone is a sublimated murder. A soft murder, appropriate to a sad, frightened time” seems as far off as the French intellectuals that Sontag will years later be scolding (in: Regarding the pain of others) for claiming “that war, like everything else that appears real, was ‘médiatique’”.

Photos – contrary to paintings – appear strangely real. And although I know that a photo can only be a photo – René Magritte’s „Ceci n’est pas une pipe“ makes the point that a picture of a pipe is not a pipe but a picture of a pipe – this photo of two gemsbok in the Namib desert (see below) seems more than a photo. It makes me feel like I was there when it was taken for as much as photos may at times seem real as much reality at times seems like a photograph.

Wednesday 3 April 2024

Das Leben der Vivian Maier

2007. Bei einer Zwangsversteigerung in Chicago erwarb der sechsundzwanzigjährige John Maloof 140 000 Fotoaufnahmen, die wenigsten waren Abzüge, die meisten Negative oder unentwickelte Filmrollen. Ann Marks, die leitende Angestellte in einem Unternehmen gewesen war und von Natur aus detektivisch veranlagt, hörte davon und wurde in der Folge beauftragt, "eine umfassende  und verlässliche Biografie von Vivian Maier zu schreiben."

Diese liegt nun vor und ist derart akribisch, dass ich mich einerseits frage, ob man all diese Details wirklich von einer Person wissen kann (kann man nicht, da ist viel Spekulation und auch viel Übertragung mit dabei), und mich andererseits wundere, weshalb einem derart unauffälligen Leben quasi über Nacht eine solche Bedeutung gegeben wird (ich finde es übertrieben). Diese posthume Verklärung der Vivian Maier hat wohl, stelle ich mir vor, mit dem Hunger des Menschen nach Bedeutungsvollem zu tun.

Vivian Maier war eine Sammlerin. Nicht nur Fotografien hortete sie, sondern auch Zeitungen. "Randy Frost, ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet zwanghaften Hortens, führt aus, dass die Betroffenen nicht selten hochintelligente Menschen sind." Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei Frost bestimmt auch um einen zwangshaften Horter handelt! "Die Fotoexpertin Elisabeth Avedon meint, Vivian habe die Gabe besessen, 'Muster zu erkennen, den Raum zu gliedern und zu gestalten und Licht und Gestik innerhalb des Bildes überzeugend anzuordnen.' Bei Vivians Wissensdurst und Sinn für alles Visuelle, war es kein Wunder, dass sie gerade Zeitungen, die für so wenig Geld so viel Inhalt boten, zum Gegenstand ihrer Sammelwut erkor."

Übrigens: "Sie pflegte ihre Negative in Pergamintaschen zu stecken, die sie mit Datum und einigen wenigen Notizen versah, jedoch fast nie mit den Namen der Porträtierten." Sammeln als ein Akt, sich der Zeit zu vergewissern, diese wirklich werden zu lassen? Die Fotografie, sagt man bekanntlich, bringe die Zeit zum Stillstand. und erlaubt es, sie festzuhalten

Zugegeben, ihr Werdegang bietet sich zum Hineininterpretieren geradezu an. Die Nanny mit der Kamera bringt ja so recht eigentlich auf den Punkt, wie die Medienwelt sich entschieden hat, Vivian Maier zu sehen. Obwohl: Es ist nicht so sehr die Tatsache, dass sie ihr Leben hauptsächlich als Kindermädchen zugebracht hat, sondern dass sie so viele Aufnahmen gemacht und (für mich das Verblüffendste) sich die meisten offenbar gar nie angeschaut hat.

Man erfährt auch Aufschlussreiches über die Fotografie in diesem dichten und detaillierten Werk. So entwickelte Vivian, als sie sich in New York aufhielt, einen Grossteil ihrer Schwarzweissfotos selbst. Auch beschnitt sie ihre Aufnahmen selber. "Als Vivian mit ihrer Rolleiflex immer besser zurechtkam, traf sie immer mehr Entscheidungen im Moment der Aufnahme selbst – eine Erfahrung, die wohl viele, die regelmässig fotografieren, machen.

Vivian Maier gilt als street photographer (ein ausgesprochen vager Begriff, unter dem man alles mögliche subsumieren kann), sie verfertigte allerdings auch zahlreiche Selbstporträts. Ann Marks hat viele diesbezügliche Interpretationen zusammengetragen, die meines Erachtens jedoch mehr über die Interpreten (Frauen wie Männer) als über Vivian Maier aussagen.

Weit besser als die vielfältigen Interpretationen gefällt mir diese kurze und wesentliche Charakterisierung Vivians, die von Ann Marks stammt . "Wie alle Menschen war Vivian der Ausdruck ihrer Gene, ihrer Kindheitserlebnisse und der Zufälligkeiten ihrer Begegnungen, Beziehungen und willkürlichen Entscheidungen, und zweifelsohne hatte ihr das Schicksal schlechte Karten zugeteilt." Schade, dass Ann Marks es nicht bei dieser Charakterisierung belassen hat. 

Nur eben: Dann gäbe es auch diese eindrückliche Biografie nicht, die sich nicht zuletzt einer ungeheuren Fleissarbeit verdankt, die in einem Forschungstalent gründet, das selten ist, und unter anderem festhält: "Man darf mit Bestimmtheit annehmen, dass Vivian hinsichtlich ihrer genetischen Veranlagung nicht begünstigt und in Bezug auf psychische Erkrankungen gefährdet war."

Andere äussern sich weniger zurückhaltend und betonen, Vivians Verhalten lese sich "wie ein Lehrbuchfall der schizoiden Persönlichkeitsstörung", für die kennzeichnend ist, dass sie sich durch einen Bruch mit den Mitmenschen charakterisiert. "Die Fotografie ... eröffnete ihr ... die Möglichkeit, Verbindungen aus sicherer Entfernung aufzunehmen."
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Ann Marks
Das Leben der Vivian Maier
Die Nanny mit der Kamera
Steidl Verlag, Göttingen 2023

Wednesday 27 March 2024

Stockfotografie

Ich habe nur eine vage Vorstellung, worum es sich bei der Stockfotografie handelt, als ich mir dieses Büchlein vornehme. Was genau sind also Stockfotografien? "Stockfotos sind Bilder, die mit Blick auf einen künftigen Verwendungszweck produziert werden und auf Vorrat ("in stock") bereitstehen." Wer einen Artikel bebildern will, wird meist mittels Schlagwortsuche in den Datenbanken der Stockfotografie fündig. "Die Stockfotografie ist also in erster Linie ein Geschäftsmodell zur effizienten Bilddistribution."

Stockfotos sind somit Bilder auf Abruf. Der Auftraggeber spart Geld für teure Fotoshootings, die Darstellung der Welt wird zunehmend uniform. Juristisch ist dies meist so geregelt, dass die Nutzung am Bild erworben wird und dieses Nutzungsrecht nicht exklusiv ist. Was zu einigermassen erstaunlichen Folgen führen kann. "So warb etwa die CDU während des Kommunalwahlkampfs in Hannover 2021 mit einem Stockfotomotiv, das die AfD bereits einige Jahre zuvor ihrerseits in einer Kampagne gegen Kita-Gebühren eingesetzt hatte."

Autor Thomas Nolte tut, was Sachbuchautoren gemeinhin so tun: Er klärt Begriffe, wirft einen Blick zurück in die Geschichte. So gängig dies auch ist, von Fantasie zeugt dieses Vorgehen nicht. Unter dem Titel "Sprechende Bilder" (ich weiss, das ist metaphorisch gemeint, trotzdem: Bilder können nicht sprechen) zeigt er dann, wie man üblicherweise Fotos interpretiert: Er liest in das Foto hinein, was nicht zu sehen ist. Zugegeben, dazu eignen sich Stockfotos hervorragend.

Stockfotografie nimmt Bezug auf bekannte Theoretiker wie William J. Mitchell, der digitale Bilder als performances verstehtoder Charles Sanders Peirce, der die Fotografie als Zeichenform begreift. Mir sind beide Betrachtungsweisen fremd; sie suchen Sinn, gründen in Interpretation und nicht in Anschauung. Irritierend fand ich überdies, dass Thomas Nolte mit Begriffen wie Street Photography oder Staged Photography (kaum etwas, was nicht darunter fallen würde) operiert, ganz so, als ob klar wäre, was darunter zu verstehen sei. Ich für meinen Teil halte solche Kategorisierungen nicht nur für willkürlich, sondern für absurd.

Als ich dann auf diesen Satz stiess   "Voraussetzung für die Entstehung der staged photography ist die Bildwerdung der Welt." – , wusste ich definitiv, dass ich nicht zum Zielpublikum dieser Schrift gehöre, denn für mich ist dies nichts als prätentiöser Jargon bzw. ich kann mir unter "Bildwerdung der Welt" so ziemlich gar nichts vorstellen. Und Baudrillard, der die Wirklichkeit als imaginiert begreift, wünsche ich möglichst schmerzhaftes Zahnweh.

Trotz vieler abgehobener Theorien, die für Bedeutungsbedürftige attraktiv sein mögen, sowie von allerlei Zitaten, die an Nichtssagendem schwer zu übertreffen sind ("Ein Stockfoto zu betrachten bedeutet, zu wissen, dass man ein Stockfoto betrachtet."), zeigt dieses Büchlein auch sehr schön auf, dass die Stockfotografie durch die von der Realität losgelöste Darstellung der Realität "eine in sich geschlossene Parallelwelt (entwirft), die sich durch sterile Perfektion auszeichnet" ...

Die Stockfotografie "bietet mit ihren Bildern eine Reihe von Gestaltungsentwürfen an." Dieser zentrale Aspekt weist darauf hin, dass wir die Welt nicht einfach hinnehmen, sondern gestalten wollen. In dieselbe Richtung geht auch die KI, wobei Autor Nolte treffend darauf hinweist, dass im Gegensatz zu KI, den Stockfotos "noch eine Referenz zukam   mag das Dargestellte selbst auch inszeniert sein."  Man konstatiere dies "mit einem fast nostalgischen Gefühl", meint er  und man kann ihm nur zustimmen.

Thomas Nolte
Stockfotografie
Pathosformeln des Spätkapitalismus
Wagenbach, Berlin 2024